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Einschätzungen des Gaza-Putsches der Hamas und westlicher Reaktionen

20. Jun 2007

Uri Avnery (Gush Shalom/Friedensblock) sieht in Israel „Krokodilstränen“ und Mustafa Barguti (ehemaliger Informationsminister Palästinas) nennt die westlichen Reaktionen „inhuman und politisch kurzsichtig“.

Mustafa Barguti aus Ramallah, ehemaliger Präsidentschaftskonkurrent von Mahmud Abbas, Vertreter der palästinensischen Zivilgesellschaft und Informationsminister der aufgelösten Einheitsregierung, fordert Neuwahlen für Palästina und sagt zum plötzlichen Geldsegen des Westens für die Fatah-Notstandsregierung in der Westbank bei gleichzeitiger Isolation von Gaza (im FR-Interview am 20.6.2007):

„Ein schreckliches Konzept. Es ist inhuman und politisch kurzsichtig. Unter der Gaza-Isolation wird nicht die Hamas leiden, die sich immer ihr Geld besorgt hat. Die Menschen dort werden auch nicht verstehen, weshalb sie das alles ausbaden sollen. In der Westbank wiederum ist nicht der Mangel an Geld das Hauptproblem, sondern die Besatzung, die Checkpoints, die Sperrmauer. Wird man das alles angehen? Nein. Die Leute in der Westbank werden für drei Monate zufrieden sein, weil sie ihre Gehälter wieder bekommen, bis ihnen klar wird, dass sich an ihrer Lage nichts verbessert hat.“

Uri Avnery, Urgestein der israelischen Friedensbewegung, sieht die Entwicklung ebenso kritisch aus israelischer Sicht:

WAS GESCHIEHT, wenn anderthalb Millionen Menschen auf einem winzigen,
unfruchtbaren Streifen Land eingesperrt sind, abgeschnitten von ihren
Landsleuten und jedem Kontakt zur Außenwelt, Opfer einer
wirtschaftlichen Blockade und nicht mehr in der Lage, ihre Familien zu
ernähren? Vor einigen Monaten beschrieb ich diese Situation als ein soziologisches
Experiment Israels, der USA und der EU. Die Bevölkerung des
Gazastreifens diente als Versuchskaninchen.

In dieser Woche zeigte das Experiment Ergebnisse. Sie beweisen, dass
menschliche Wesen genau wie andere Lebewesen reagieren: wenn zu viele
von ihnen in einem kleinen Gebiet unter miserablen Bedingungen
zusammengepfercht sind, werden sie aggressiv und sogar mörderisch. Die
Organisatoren des Experimentes in Jerusalem, Washington, Berlin, Oslo,
Toronto und anderen Hauptstädten konnten nun befriedigend ihre Hände
reiben. Die Opfer des Experimentes reagierten, wie vorauszusehen war.
Viele von ihnen starben sogar.

Aber das Experiment ist noch nicht zu Ende. Die Forscher wollen genau
wissen, was geschieht, wenn die Blockade noch strenger durchgeführt wird.

WAS HAT die gegenwärtige Explosion im Gazastreifen verursacht?

Der Zeitpunkt, an dem Hamas die Entscheidung traf, den Gazastreifen mit
Gewalt zu übernehmen, war nicht zufällig. Die Hamas hat gute Gründe,
dies zu vermeiden. Die Organisation ist nicht in der Lage, die
Bevölkerung zu ernähren. Sie hat kein Interesse daran, das ägyptische
Regime zu provozieren, das gerade dabei ist, die Muslimbrüder, die
Mutterorganisation von Hamas, zu bekämpfen. Die Organisation hat auch
kein Interesse daran, Israel einen Vorwand zu liefern, die Blockade noch
enger zu gestalten.

Doch die Hamasführer entschieden, dass sie keine Alternative hätten, als
die bewaffneten Organisationen zu zerstören, die mit der Fatah liiert
sind und Präsident Mahmoud Abbas unterstehen. Die USA hatte Israel
empfohlen, diese Organisationen mit einer Menge Waffen auszurüsten,
damit sie gegen die Hamas kämpfen könnte. Die israelische Armee war von
dieser Idee nicht begeistert und fürchtete, dass die Waffen schließlich
in die Hände der Hamas fallen könnten (wie es tatsächlich auch schon
geschehen ist). Aber unsere Regierung gehorchte -- wie immer - den
amerikanischen Befehlen.

Das amerikanische Ziel ist eindeutig. Präsident Bush hat für jedes
islamische Land einen lokalen Führer ausgesucht, der unter
amerikanischem Schutz herrschen und amerikanischen Befehlen folgen
sollte: Im Irak, im Libanon und nun auch in Palästina.

Hamas ist davon überzeugt, dass der für diesen Job auserwählte Mann im
Gazastreifen Mohammed Dahlan ist. Seit Jahren sah es danach aus, als ob
er genau für diese Position vorbereitet würde. Die amerikanischen und
israelischen Medien sangen ein Loblied auf ihn und beschrieben ihn als
starken, entschiedenen Führer, "moderat" ( d.h. den amerikanischen
Befehlen gehorchend) und "pragmatisch" ( d.h. den israelischen Befehlen
gehorchend). Und je mehr die Amerikaner und Israelis Dahlan lobten, um
so mehr untergruben sie seinen Ruf unter den Palästinensern. Besonders
als Dahlan sich in Kairo aufhielt, als ob er auf die für seine Männer
versprochenen Waffen wartete.

In den Augen der Hamas ist der Angriff auf die Stellungen der Fatah im
Gazastreifen ein Präventivkrieg. Die Organisationen von Abbas und Dahlan
schmolzen wie Schnee in der palästinensischen Sonne dahin. Die Hamas hat
problemlos den ganzen Gazastreifen übernehmen können.

Wie konnten sich die amerikanischen und israelischen Generäle noch
einmal so sehr verkalkulieren? Sie sind nur in der Lage, nach streng
militärischen Begriffen zu denken: so und so viele Soldaten, so und so
viele Maschinengewehre. Aber bei internen Kämpfen sind quantitative
Berechnungen zweitrangig. Die Moral der Kämpfer und die allgemeine
Stimmung sind weit wichtiger. Die Mitglieder der Fatah wissen nicht,
wofür sie kämpfen. Die Bevölkerung von Gaza unterstützt Hamas, weil sie
glaubt, sie kämpfe gegen die israelischen Besatzer. Ihre Gegner werden
als Kollaborateure der Besatzung angesehen. Das amerikanische Statement
über ihre Absicht, sie mit israelischen Waffen auszurüsten, hat sie
endgültig verurteilt.

Das hat nichts mit islamischem Fundamentalismus zu tun. Diesbezüglich
sind alle Nationen gleich : sie hassen Leute, von denen sie annehmen,
dass sie mit dem fremden Besatzer kollaborieren -- ob sie nun Norweger
(Quisling), Franzosen (Petain) oder Palästinenser sind.

IN WASHINGTON und Jerusalem beklagen die Politiker die "Schwäche von
Mahmoud Abbas".

Nun sehen sie, dass die einzige Person, die eine Anarchie im
Gazastreifen und auf der Westbank hätte verhindern können, Yasser Arafat
gewesen wäre. Er hatte natürliche Autorität. Die Massen verehrten ihn.
Selbst seine Gegner wie die Hamas respektierten ihn. Er baute mehrere
Sicherheitsapparate auf, die mit einander im Wettstreit lagen, um einen
einzigen Apparat zu verhindern, der einen Staatsstreich hätte ausführen
können -- wie es jetzt im Gazastreifen geschehen ist. Arafat war in der
Lage, zu verhandeln, ein Friedensabkommen zu unterzeichnen und sein Volk
dahin zu bringen, dieses zu akzeptieren.

Aber Arafat wurde von Israel als Monster angeprangert, in die Mukatah
eingesperrt und am Ende umgebracht. Die Palästinenser wählten Mahmoud
Abbas zu seinem Nachfolger, da sie hofften, er würde von den Amerikanern
und Israelis das erhalten, was sie Arafat zu geben sich weigerten.

Wenn die Führer in Washington und Jerusalem tatsächlich an Frieden
interessiert gewesen wären, hätten sie sich beeilt, mit Abbas ein
Friedensabkommen zu unterzeichnen. Er hatte erklärt, er wäre bereit,
dieselben weitreichenden Kompromisse zu machen wie Arafat. Die
Amerikaner und Israelis überhäuften ihn mit allem erdenklichen Lob --
wiesen ihn aber bei jeder konkreten Sache schroff zurück..

Sie machten Abbas nicht die geringsten Zugeständnisse. Ariel Sharon
rupfte ihm die Federn aus und verkündete dann, Abbas sei wie "ein
gerupftes Huhn". Nachdem die Palästinenser geduldig aber vergeblich
darauf gewartet hatten, Bush werde sich bewegen, stimmten sie für die
Hamas, um mit verzweifelter Hoffnung durch Gewalt das zu erlangen, was
Abbas nicht auf diplomatischem Wege erreichte.

Die israelischen Führer -- die militärischen wie auch die politischen --
waren überglücklich. Sie waren daran interessiert, Abbas' Autorität zu
schwächen, weil er Bushs Vertrauen hatte. Sie taten alles, um die Fatah
zu demolieren. Um sicher zu gehen, verhafteten sie Marwan Barghouti, die
einzig fähige Person, die Fatah wenigsten in der Westbank aufrecht zu
halten.

Der Sieg der Hamas passte vollkommen zu ihren Zielen. Mit der Hamas muss
man nicht reden, auch nicht den Rückzug aus den besetzten Gebieten
anbieten oder gar die Auflösung der Siedlungen. Die Hamas ist das
Monster unserer Zeit, eine "Terroristenorganisation" -- und mit
Terroristen verhandelt man nicht.

WARUM ALSO waren die Leute in Jerusalem in dieser Woche nicht zufrieden?
Und warum entschieden sie, nicht "dazwischen zu gehen"?

Die Medien und die Politiker, die zwar seit Jahren mitgeholfen hatten,
die palästinensischen Organisationen gegen einander zu hetzen, zeigten
sich befriedigt und rühmten sich mit " Genau das sagten wir doch!".
Schaut, wie die Araber sich nun gegenseitig umbringen. Ehud Barak hatte
recht, als er vor Jahren sagte, dass unser Land wie "eine Villa mitten
im Dschungel" ist.

Aber hinter den Kulissen konnte man Stimmen der Beunruhigung und Angst
vernehmen.

Die Verwandlung des Gazastreifens in ein Hamastan hat eine Situation
geschaffen, für die unsere Führer nicht vorbereitet waren. Was muss
jetzt getan werden? Den Gazastreifen völlig abschneiden und die Menschen
dort verhungern lassen? Mit der Hamas Kontakt aufnehmen? Den
Gazastreifen noch einmal besetzen - nun, wo es zu einer großen
Panzerfalle geworden ist? Die UN zu bitten, dort eine internationale
Truppe zu stationieren -- und wenn ja, welches Land wäre so wahnsinnig,
seine Soldaten in diese Hölle zu senden?

Unsere Regierung hat jahrelang daran gearbeitet, die Fatah zu zerstören,
um über kein Abkommen verhandeln zu müssen, das zum Rückzug aus den
besetzten Gebieten und zur Auflösung der Siedlungen dort führen würde.
Jetzt, wo genau dieses Ziel scheinbar erreicht worden ist, haben sie
keine Idee, wie man sich gegenüber dem Hamassieg verhalten soll.

Sie beruhigen sich mit dem Gedanken, dass dies in der Westbank nicht
geschehen würde. Dort herrscht die Fatah. Dort hat die Hamas keinen
Rückhalt. Dort hat unsere Armee schon die meisten politischen
Hamasführer verhaftet. Dort hat Abbas noch überlebt.

So reden Generäle -- mit der Logik der Generäle. Aber auch in der
Westbank hat die Hamas bei den letzten Wahlen die Mehrheit der Stimmen
erhalten. Auch dort ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung
ihre Geduld verliert. Sie sieht die Expansion der Siedlungen, die Mauer,
erlebt die Überfälle unserer Armee, die gezielten Tötungen, die
täglichen Verhaftungen. Sie wird irgendwann auch explodieren.

Die auf einander folgenden israelischen Regierungen haben die Fatah
systematisch zerstört, ständig Abbas' Autorität beschnitten und für die
Hamas den Weg gepflastert. Nun vergießen sie Krokodilstränen.

WAS SOLLTE nun getan werden? Soll Abbas boykottiert werden oder soll man
ihn mit Waffen ausrüsten, um ihn in die Lage zu versetzen für uns gegen
die Hamas zu kämpfen? Soll man ihn auch weiterhin daran hindern,
irgendein politisches Ziel zu erreichen oder ihm wenigstens ein paar
Brosamen hinwerfen? Und wenn ja -- ist es nicht viel zu spät?

(An der syrischen Front: weiter Lippenbekenntnisse abgeben und alle
Bemühungen Bashar Assads, mit Verhandlungen zu beginnen, sabotieren? Im
Geheimen verhandeln, trotz amerikanischer Einwände? Oder weiterhin
einfach gar nichts tun?)

Im Augenblick gibt es keine Politik und keine Regierung, die politische
Entscheidungen trifft.

Wer wird uns also retten? Ehud Barak?

Baraks Sieg bei den Vorwahlen der Laborpartei hat ihn fast automatisch
zum nächsten Verteidigungsminister gemacht. Seine starke Persönlichkeit
und seine Erfahrung als Generalsstabschef und Ministerpräsident sichert
ihm eine beherrschende Position in der neu aufgestellten Regierung.
Olmert wird sich mit Angelegenheiten befassen, in denen er ein
unübertrefflich ist -- in Parteiintrigen. Aber Barak wird den
entscheidenden Einfluss auf die Politik haben.

In den Regierungen der beiden Ehuds, wird Ehud Barak über Krieg und
Frieden entscheiden. Bis jetzt waren praktisch all seine Entscheidungen
vpn negativen Ergebnissen geprägt. Er hatte mit Assad, dem Vater, schon
fast ein Abkommen erreicht und im letzten Augenblick wieder aufgegeben.
Er hat die israelische Armee aus dem Südlibanon herausgezogen, ohne mit
der Hisbollah zu reden, die dann den Südlibanon übernahm. Er zwang
Arafat nach Camp David zu kommen, beleidigte ihn dort und erklärte, wir
haben keinen Partner für den Frieden. Dies bedeutete den Todesschlag für
Friedensaussichten -- es war ein Schlag, nach dem die israelische
Gemeinschaft noch immer wie gelähmt ist. Er rühmte sich, seine wirkliche
Absicht sei die gewesen, Arafat zu entlarven. Er war eher ein
gescheiterter Napoleon als ein israelischer De Gaulle.

Wird ein Äthiopier seine Haut, ein Leopard seine Flecken ändern? Wohl kaum.

IN WILLIAM Shakespeares Dramen gibt es häufig in spannenden Momenten ein
komisches Zwischenspiel. Und nicht nur dort.

Shimon Peres, der Person, die in 55 Jahren politischer Tätigkeit bei
keiner Wahl gewonnen hat, gelang in dieser Woche Unmögliches: Er wurde
zum Präsidenten Israels gewählt.

Vor vielen Jahren schrieb ich einen Artikel mit der Überschrift: "Herr
Sisyphus", weil er immer wieder fast die Schwelle des Erfolgs erreicht
hatte -- doch der Erfolg blieb aus. Nun hat er das Urteil der Götter
durchbrochen und den Gipfel erreicht - aber leider ohne den Felsblock.
Das Amt des Präsidenten ist ohne Inhalt und ohne Zuständigkeit. Ein
nichtssagender Politiker hat eine nichtssagende Position gewonnen.

Nun erwartet jeder im Präsidentenpalast einen Wirbel von Aktivitäten. Da
wird es sicher Friedenskonferenzen, Treffen von hochstehenden
Persönlichkeiten, hochtönende Erklärungen und erhabene Pläne geben. Kurz
-- viel Lärm um nichts.

Das tatsächliche Ergebnis ist, dass Olmerts Position gestärkt worden
ist. Ihm gelang es, Peres ins Amt des Präsidenten zu hieven und Barak
ins Verteidigungsministerium. Für die nächste Zukunft ist Olmerts
Position gesichert.

Und in der Zwischenzeit läuft das Experiment im Gazastreifen weiter, der
von der Hamas übernommen wurde, und das Trio Ehud 1 und Ehud 2 und
Shimon Peres vergießen Krokodilstränen.


Quelle: uri-avnery.de / ZNet Deutschland 16.06.2007 (Übersetzung: Ellen Rohlfs)